Die Humanembryologische
Dokumentationssammlung Blechschmidt
Der Göttinger Anatom Erich Blechschmidt erstellte von 1951 bis 1973 eine einmalige Modellsammlung zur Embryonalentwicklung unter Verwendung menschlicher Embryonen.
Dem Werk des Leipziger Anatomen Wilhelm His (1831-1904), dem Begründer der menschlichen Embryologie folgend entwickelte Erich Blechschmidt (1904-1992), Direktor am Anatomischen Institut der Universität Göttingen von 1942 bis 1973, das Konzept einer dauerhaften plastischen Dokumentation der frühen menschlichen Entwicklung für die Wissenschaft. In Zusammenarbeit mit Dipl.-Ing. Wilhelm Kircheiß nutzte Blechschmidt bei der Rekonstruktionsmethode von Gustav Born (1851-1900) erstmals zusätzlich Polyestergießharz. Unter anderem entstanden für 9 Individuen aus den ersten 8 Wochen der Schwangerschaft über 40 stark vergrößerte Modelle mit farblich kodierten Geweben und Organen. Dabei wurden von derselben mikroskopischen Schnittserie eines Embryos bis zu 7 Varianten mit verschiedenen Organsystemen rekonstruiert.
Im Rahmen eines wissenschaftshistorischen Forschungsprojektes wurde von 2017 bis 2019 die Herkunft auch der übrigen der insgesamt 430 histologischen Schnittserien mit Geweben von menschlichen Embryonen und Feten untersucht, die Blechschmidt gesammelt hatte (s. http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?gs-1/16370). Die Ergebnisse lassen vermuten, dass Blechschmidts Sammlung mehrere Tausend Embryonen und Feten umfasste, von denen aber nur ein Teil in Forschung und Lehre verwendet wurde. Die Präparate stammten aus spontanen Aborten und Totgeburten, von Schwangerschaftsabbrüchen, Eileiterschwangerschaften und Gebärmutteroperationen oder auch von Obduktionen in Praxen bzw. Kliniken, vorrangig in Niedersachsen. Im Regelfall kann die Herkunft individueller Präparate nicht mit einer Dokumentation im Institutsarchiv belegt werden. Aufgrund der lückenhaften Dokumentationslage und des Sammlungsbeginns im Jahr 1942 kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige, insbesondere fetale Schnittserien vor 1945 auf NS-Zwangsabtreibungen, etwa in Göttingen oder Bad Lauterberg zurückgehen. Für kein Präparat liegt ein Einverständnis der Patientin vor. Die Patientinnen wurden über die Weitergabe eines Embryos an die Anatomie und die Verwendung für die Forschung oder den Modellbau nicht informiert.
Das Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ist sich der Verantwortung bewusst, die mit dem wissenschaftsethisch problematischen Erbe Blechschmidts verbunden ist und berücksichtigt dies in Forschung und Lehre. Im Anschluss an die historische Aufarbeitung begann eine Einzelfallprüfung der mehreren Hundert von Präparaten, die durch das Projekt der Blechschmidt-Sammlung zugeordnet werden konnten, jedoch bislang nicht wissenschaftlich untersucht wurden. Im Zuge dieser Prüfung wird die individuelle Relevanz für Forschung und Lehre dokumentiert und sukzessive eine De-Archivierung und Bestattung veranlasst.
Die vielfältigen ethischen und gesellschaftlichen Problemfelder der Sammlung wurden im Master-Lehrforschungsprojekt 2019/2020 am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Göttingen bearbeitet. Dessen Ergebnisse wurden 2021 digital und in Buchform publiziert ( https://blickwechsel.gbv.de) bzw. https://www.univerlag.uni-goettingen.de/handle/3/isbn-978-3-86395-478-9) und mit der Sonderausstellung "Blickwechsel" in einer Wandvitrine – auch zum symbolischen Gedenken an die vielen unfreiwillig beteiligten Patientinnen – in der Sammlung verankert.
Weltweit gibt es nur wenige ausgedehnte Sammlungen mit histologischen Schnittserien menschlicher Embryonen. Neben den Sammlungen der Carnegie Institution in Washington D.C. (USA) und dem Congenital Anomaly Research Centre der Kyoto Universität (Japan) gehört die Blechschmidt-Sammlung wegen ihres Umfangs und der hervorragenden Qualität der histologischen Schnitte zu den bedeutendsten Sammlungen dieser Art.
Die Ausstellung der plastischen Rekonstruktionen ist im Zentrum Anatomie, Kreuzbergring 36, 37075 Göttingen, untergebracht und nach Anmeldung im Sekretariat der Anatomie (Tel. 0551 39-67000) öffentlich zugänglich.